Sein
Ich höre sie immer noch: Stimmen. Einmal sind sie lauter, dann wieder leiser. Sie versuchen, mich zu überzeugen, in mein altes Leben – mein altes Selbst – zurück zu verfallen. „Steh auf!“, höre ich etwas – ein anderes Flüstern – dann plötzlich. Ich tue es: Es ist 03:31 Uhr.
Heute ist die gelebte Erfahrung für mich wieder schwieriger. Kaum bin ich in der Lage, während meines Morgenkaffees Nietzsche zu folgen. Selbst nach mehrmaligem Lesen seiner Sätze, die vor lauter Weisheit ganze Bücher anderer Philosophen in den Schatten stellen, begreife ich nur sehr wenig von deren Bedeutung. Die letzten Minuten vor meinem geplanten Lauf nutze ich daher, um eigene Weisheiten zu formulieren:
Wissen ist das, was man als passend oder unpassend erfahren hat.
Erfahrung: Sie ist es, die im Leben zählt. Ganz nach diesem Motto schlüpfe ich dann in meine Laufschuhe und gehe hinaus – muss integer mit meinem Wort handeln, meine Versprechen einhalten.
Der Lauf selbst ist eine Offenbarung: Obwohl ich immer wieder aus dem Moment falle – weil ich meiner Natur gemäß öfter über die Geschehnisse meines Lebens in den letzten, beinahe schon, drei Jahren nachdenke –, verspüre ich eine tiefe Zufriedenheit. Was hat sich – habe ich – in dieser Zeit doch alles getan?
Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass ich einmal so leben würde, wie ich es momentan tue: nüchtern, allem voran. Was für ein mentaler Kampf ist es doch – zeitweise – gewesen. Doch nun habe ich sie – so traue ich mich beinahe zu behaupten – gefunden: die Impfung. Sie heißt Liebe.
Sie ist es also – romantische Liebe zwischen Mann und Frau. Wie sehr habe ich diesen Lebensbereich doch innerhalb der letzten zehn Jahre vernachlässigt, ihn mir förmlich ausgeredet. Stattdessen habe ich all meine Anstrengungen auf anderes Tun ausgerichtet. Doch diesen fundamentalsten aller Triebe kann ich mittlerweile nicht mehr unterdrücken – am Wochenende habe ich es bemerkt.
Stimmen – ich höre sie immer noch, das ist wahr. Doch ich höre ihnen nicht mehr zu, tue nicht mehr blind, was sie von mir verlangen. Stattdessen höre ich auf mein höheres Sein – mein kreiertes Selbst. Damit bin ich.
„Genug“, flüstert es – und offenbart sich: Inspiration.
Es ist 06:10 Uhr.